Und der Gewinner des Jahres 2012 … ist der „3D-Drucker: Orcabot“!
Während einige noch fragen, was dieses neuartige Ding eigentlich kann, hören andere in ihm das typische Geräusch des vergangenen Jahres. Während wieder andere Protagonisten der Open-Source-Szene ihn schon nicht mehr hören können… Der überraschend gut platzierte Feueralarm markiert dazu einen kuriosen Gegenpol in einer spontan eingefangenen Lautsphäre mit glimpflichem Ausgang, ein würdiger zweiter Platz auf jeden Fall. Immerhin bringen uns ein intensives Hochsommergewitter und ein paar versprengte Graugänse ein klein wenig Ausgleich in das kulturtechnisch domestizierte Grundlebensgeräusch des vergangenen Jahres. Hier die Top 10 im Einzelnen:
1. St. Vincent St. Vincent
2. TWISK Two
3. D’Angelo & the Vanguard Black Messiah
4. Mutter Text und Musik
5. Neneh Cherry Blank Project
6. Gazelle Twin Unflesh
7. Ja, Panik Libertatia
7½. Arca Xen
8. Annalena Bludau In The Black / Two-Spirit II
9. Dean Blunt Black Metal
10. Sleaford Mods Divide and Exit
Vielen Dank allen, die abgestimmt haben. Gewinner der diesjährigen Geräusch-CD ist Wendelin Bottländer für den mit Abstand ausführlichsten und feinsinnigsten Kommentar des Jahres! Doch lest selbst:
„Nach ausführlichem Eintauchen in die Welt der 15 Geräusch-Strecken habe ich mich jetzt grade noch zum Einsendeschluss für 3 Medaillenränge entschieden. Aus den möglichen Kategorien „schönste, typischste, betörendste, unbekannteste, vermissteste, das beste Geräusch“ habe ich mich für drei entschieden. Im einzelnen:
1 Serverschrank: Düstere stagnative Vision, wenig Entwicklung, erschreckend sogar das abrupte Ende
2 FFM Bahnsteighalle: sehr plastisch, stereo, optimistische Stimmen, das ständig wiederkehrende hochvariierte Element der Rolli-Röllchen, die gurren, schubbern, schleifen, knarzen, rasseln, hoppeln, furzen (4.09, 5.08). Klassischer Doppelgong, offizielle Verlautbarungen von Männer- und Frauenstimmen, grosser Moment das langsam zischende Einbremsen der Lok (4.44), die menschlichen Stimmen spielen ihre Rolle sehr überzeugend „gut ne, heut morgen – schönes Wochenende, bis dann – tschüss (ab 6.20),bis zum Abschluss-Stakkato des Fünfton-Gelächters (9.42)
3 Graugänse: Bekommen eine ganz kurze Chance, sich zu präsentieren. Als sie beginnen, ihre Anfangsnervosität zu überwinden, ist leider bereits Schluss (0.58)
4 Disney Store: seltsam ungemütliche Atmosphäre, Sound erinnert an MUZAK, den Aufzugsbeschaller-König der 70er Jahre. Kleines Kind ruft Daddy, hört sich an wie Pappi. Auch die spätere (3.45) Hereinnahme von modernen Operetten-Elementen kann den Streifen nicht retten.
5 Leeds-Leicester: Grosses Kino im gefüllten Stadion. Im Gegensatz zu den unzähligen wackeligen Handykamera-Beiträgen auf Youtube, die die Fan-Athmosphäre zwar zeigen möchten, aber daran meist scheitern, gelingt Axel Ganz hier eine faszinierende Darstellung einer wilden und emotionalen Atmosphäre, die eben nur durch ruhige Kontemplation erfahrbar wird. Besonders eindrucksvoll der lange Beifall zu Ehren von Gary Speed. Später brilliant die oszillierend wechselnde Stimmung, einerseits bei Ballbesitz von Leeds getragen durch die Hoffnung auf etwas sich anbahnendes grosses, andererseits bei Ballbesitz des Gegners durch Anfeuerung zur Jagd auf diesen.
6 Notre Dame: Meditativer Gesang im Hintergrund erzeugt Visionen von wunderschönen farbig-leuchtenden Ornamenten in den Kirchenfenstern. Gemeiner Fiepton bei 1.56. Der Gesang wird ab 8.30 sehr schön und ab 10.00 gibt die Orgel deutlich den Ton an.
7 Sicherheits-Check: Hier sind diverse Fieptöne nicht störend wie in der Kirche, sondern wesentlicher Bestandteil des Klangbildes. Ab 1.54 Poltern. Gelächter, aufgeregte Stimmen. Immer wieder mahnt der Terrorton. Aber dann: Erleichterung: beruhigende Frauenstimme: Destination Stockholm!
8 3D Drucker Orcabot: Die Antwort auf den Serverschrank (1)! Orcabots revanchiert sich auf dermaßen eindrucksvolle Weise für seinen unterentwickelten Kollegen, daß man sich wirklich fragen muss, was an diesem Orchester Zufall und was Komposition ist. Davon dürften wohl selbst seine Konstrukteure nichts ahnen.
9 Türkische Hochzeitsgesellschaft: Die Musik beginnt recht normal, entwickelt aber Takt für Takt mehr Energie. Dudelsack und Trommel spielen sich in einen Rausch, faszinierend das ausflippende Solo ab 1.25. Schreck bei 4.30 weil Unterbrechung durch? Wahrscheinlich zwischendurch Regieanweisungen vom Brautvater, denn zum Glück gehts ab 5.03 weiter wie vorher.
10 Horizon Field: Hört sich so an wie ein ruhiges Horizont-Feld. Aber das ist in einer Halle nicht viel. Es könnte eine Kunstaktion stattfinden. Oder auch nicht. Erleichternd die Kinderstimme bei 6.45
11 Manhattan Bridge: Der Titel selber klingt imposanter und interessanter als der Sound. Bei 2.45 fährt eine Tram durch, ansonsten?
12 Hochsommergewitter: Wunderschön anschwellendes Prasseln und Tackern! Ich warte aufs Donnern, bis 3.00 noch nix, aber in schöner Unregelmässigleit einzelne Grosstropfen im Vordergrund. Dann der Donner! (4.33) Regen wird immer stärker.
13 Schleuse Gelsenkirchen: Wunderbarer Akt, das Schliessen und Öffnen einer Schleuse. Bei Einfahrt des Schiffes bekommt man ein echtes Rangiergefühl. Die Motorfrequenz geht auf und ab und versorgt uns mit pulsierendem Wechsel-Sound. 7.35 bellt der Schiffshund? Nein, eher der Joggerinnen-Beihund.
14 St-Paul-St-Louis, Paris: Im Gegensatz zu Notre dame erlaubt hier die Abwesenheit von Orgelmusik und Chorgesang eine wesentlich differenziertere Wahrnehmung der Kirche. Zuschlagende Türen, Hall und infolge Richtungswechsel quietschende Sohlen erlauben ein Vorstellung der Grösse, Tiefe und Bedeutung dieses Bauwerks zu erahnen.
15 Feueralarm Schauspielhaus: Der Designer des 4-stufigen Warntons hat die Tonfolge absteigend kreiert, wohl um einer Panik entgegenzuwirken. Denn absteigen heisst beruhigen. Die x-mal wiederholte Durchsage wirkt allerdings mit jedem Durchgang unglaubwürdiger. Die Ungenauigkeit der Durchsage „technischer Defekt“ scheint noch aus der Aera der Erbauung des Schauspielhauses (50er Jahre) zu stammen, denn der obrigkeitshörige Geist jener Zeit ist längst einem kritischen Verbrauchergeist gewichen, der selbst einst unflexible Institutionen wie die deutsche Bahn längst in eine Informations-Glaubwürdigkeitsoffensive gezwungen hat, die heute Durchsagen von maximalster Transparenz zu produzieren imstande ist. Etwa: „Liebe Reisende, aufgrund einer baustellenbedingten Eingleisigkeit 10 km vor uns müssen wir dort ausnahmsweise ein Baufahrzeug passieren lassen. Das verzögert unsere Weiterfahrt aber nur um 3,5 Minuten, die wir bis Dortmund voraussichtlich wieder aufgeholt haben werden.“
Insofern ist es eigentlich extrem beunruhigend, wenn in einem Schauspielhaus nur ein denkbar ungenauer Automat auf ein möglicherweise gravierend gefährliches Problem reagieren kann. Dieser berechtigten Sorge trotzen aber offensichtlich diverse Besucher des Schauspielhauses efolgreich, denn bis zu 4.40, als das Mikro scheinbar unter freiem Himmel gelandet ist, erinnert die Atmosphäre der gewarnten Besucher ungefähr an die freudige Erwartung des Publikums aus „A day in life“ von den Beatles.
Also hier mein Siegerpodest:
Platz 1: 3D Drucker Orcabot Rubrik: Das betörendste Geräusch
Platz 2: Leeds-Leicester Rubrik: Das schönste Geräusch
Platz 3: FFM Bahnsteighalle Rubrik: Das typischste Geräusch“
Wendelin Bottländer
Danke, Wendelin!
Wahnsinnskommentare vom Preisträger. Das Blog lebt!