Kaum ist der fast vierjährige Schönheitsschlaf der Kiesgroup seit „Das Leben als Umweg zwischen Nichts und Nichts“ beendet, steht bei den Düsseldorfern der Mensch auch schon wieder quer zur Gesellschaft. Beseelt von freundlicher Verwunderung steht er da und weiß nicht wie ihm geschieht. In Einsamkeit und gegenseitigem Unverständnis begegnen sich Individuum und Gruppe. Können nicht miteinander. Nicht in Heiserkeit und nicht im Flüstern. Was soll nur geschehen? Was wird geschehen?
Manches scheint aus früheren Jahren und Alben bekannt: Nonchalante Untertreibungen in den vielschichtigen Texten, die manches in fieserem Licht erscheinen lassen, werden lässig und mit chansonetter Geste aus der Hüfte gezaubert. Reifezeugnisse werden im Handumdrehen durchgezappt. Die Hände bleiben in den Hosentaschen, der Schal modisch um den Hals gewürgt. Und das Leben an sich ist immer noch so phänomenal wie die Einsamkeit des Einzelnen bitter ist.
Doch in manch geheimnisvoller Ferne gezeichnet von Krieg, Knast und (Beziehungs-) Abenteuer mag diese Bitterkeit in bizarre Schreie umschlagen. Im kurzen Punkrock-Feger zieht schon mal ein halbes Jahrhundert abendländische Geschichte an uns vorüber. Schnelldurchläufe kontrastieren das Schelmentum der Flaneure, zeichnen ihnen die schönsten Seemanns-Narben des asiatischen Kontinents. Gerade in diesen Kontrasten und Rezitativen zeigt sich das blinde kompositiorische Verständnis zwischen Max Stamm und Andreas van der Wingen mit ihrer ganz eigenen Melange aus Pop, Rock, Jazz und Chanson. Dann wieder zitiert sich die Kiesgroup selbst von Hotel-Lobby zu Hotel-Lobby. Vielleicht hat Stefanie mal wieder was gesagt. Das ändert zwar auch nichts, nicht die Gesellschaft und nicht das Bewusstsein. Aber es ist ein Plädoyer für die Bedeutung des Geschichtenerzählens. So mag das Schreien in unserer Erinnerung nie ganz ersticken. Und das ist gut, schon aus therapeutischen Gründen.
Und das therapeutische Trost-Pflastern wird auf „Shantychrist“ groß geschrieben. Sänger Andreas van der Wingen klebt seine Reime in fast jeden Vers. Fast zwanghaft wird durchgereimt, bis auch der letzte Zweifel an der Authentizität der Autorenschaft des Sängers beseitigt ist. Das wirkt manchmal etwas überspannt. Zeigt es doch auch zwischen den Zeilen, dass die Kommunikation immer noch eine komplizierte Sache ist, nicht zuletzt in der Dichtung und im Pop. Verständnis reimt sich zwar auf Bekenntnis, lässt aber in den intelligenten Zitatensammlungen kaum mehr Raum für Brüche und Unvorhersehbares.
Und doch: auch wenn man ausgleichende Irrationalität vergeblich in all den Schufa-Palästen des kiesgroupschen Universums suchen mag, gehört „Shantychrist“ jederzeit zu der Oberliga deutschsprachiger Alben der letzten Jahre. Kiesgroup haben das Talent unbequeme Fragen zu stellen, die so sehr auf der Höhe der Zeit sind, dass es manchmal weh tut und manchmal eine Träne braucht, um zu verstehen. „Wenn die Müdigkeit ruht“ hätte mühelos das Zeug, die Hymne der aktuellen Occupy-Bewegung zu werden. Doch auch das darf man nicht überbewerten. Aus Sicht der Kiesgroup besteht nie Anlass zu endgültiger Euphorie oder Verzweiflung – solange es Menschen gibt.
„Shantychrist“ erscheint im Februar auf Tumbleweed Records