Jahrgangsgeräusche hat sich zur Beantwortung dieser Frage GastautorInnen eingeladen, die ohne Reglementierungen ihre Beiträge einreichen konnten und auch weiterhin noch können. Schön zu sehen, wie unterschiedlich sie das bewerkstelligen.
Lennart Thiem ist heute unser Gast. Er liebt Musik. Er hat sogar mal selbst welche gemacht. Nun schreibt er aber lieber auf verschiedensten Kanälen darüber. Zum Beispiel beim OPAK und bei Auftouren. Lennart lebt in Hamburg.
Vorbemerkung: Nach dem Abfassen des folgenden Textes fiel mir auf, dass die der Reihe zugrunde liegende Frage darin nicht beantwortet wird… nun, woher kenne ich die Beatles? Ich weiß es nicht und kann mich nicht daran erinnern, sie jemals nicht gekannt zu haben.
Die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts boten mir ein Umfeld, in dem sich meine musikalische Sozialisation unter geradezu privilegierten Umständen vollziehen konnte. In meinem Geburtsort war die Elterngeneration zwar mit Karat und den Puhdys, der Klaus Renft Combo, Reinhard Lakomy, City und Gerhard Schöne vertraut, von anderer Popmusik hatte sie aber keine Ahnung. Sicher, es erschienen auch in der DDR diverse Platten mit den Liedern „westlicher“ KünstlerInnen, aber bei dem, was Amiga seit den 80er Jahren anbot, handelte es sich meist um Compilations, also keine richtigen Alben. Diese unterlagen außerdem noch einem kulturpolitischen Kalkül, und egal, wie auch immer dieses bei den Les Humphries Singers, Elton John und Jennifer Rush ausgesehen haben mag, bei Künstlern wie John Lennon dürfte es sich bemerkbar gemacht haben. Von ihm erschienen, zumindest soweit es mir bekannt ist, in der DDR nur die Werkschau „Shaved Fish“ und sein letztes reguläres Album, „Double Fantasy“. Wer anderes weiß, darf mich gerne korrigieren, mit der Diskografie des Amiga Labels kenne ich mich nicht gut genug aus, um ohne Recherche Genaueres sagen zu können, auf diese möchte ich hier aber verzichten.
Für meine Unkenntnis gibt es einen einfachen Grund: Ich wurde 1984 geboren und habe gegen Ende der 90er Jahre begonnen, mich für die Beatles zu interessieren, zu einem Zeitpunkt, an dem sämtliche regulär erschienenen Alben verfügbar waren und die „The Beatles Anthology“ erschien. Gegenüber der Elterngeneration und anderen älteren Menschen bestand also ein klarer Vorteil hinsichtlich des verfügbaren Materials.
In Sachen Abgrenzung und Bescheidwisserei war es deswegen eine recht einfache Zeit für meinen Schulfreund Sebastian, den ich auch heute noch dem Großteil der ollen Menschheit vorziehe, und mich. Gemeinsam tauschten wir uns über das Wunder der Beatles aus, ließen Bücher und Musik in unserem sehr exklusiven, da nur aus zwei Personen bestehenden Zirkel kursieren und lauschten der Band hingerissen in den Schulpausen via Walkman und geteilten Kopfhörern. Das klingt recht idyllisch, was es auch war. Denn wir besassen gegenüber so ziemlich allen anderen Angehörigen unserer Generation einen enormen Vorteil: Wir unterlagen nicht den damals gegenwärtig populären Strömungen, wir machten eigene Entdeckungen, für die sich nicht nur ein jeder Song der Beatles anbot, sondern ebenso all die Literatur um sie herum, all das Wissen, dass sich nur erarbeiten ließ und nicht via Elternhaus tradiert werden konnte. Durch dieses Geheimwissen waren wir laut eigener Meinung ziemlich cool, dass sie von niemandem um uns herum geteilt wurde, bestätigte sie nur.
Der Presserummel und die Konzerte, Kinofilme und das Anrollen der Kulturindustrie in Richtung Pop durch die Beatles schienen in der DDR nicht erfolgt zu sein. Es gab zwar die Blueser, eine Goth- und Punkszene, Liedermacher und die Bürgerrechtsbewegung um die evangelische Kirche, aber keine wirtschaftliche oder kulturelle Infrastruktur, um mir zu sagen, was ich zu konsumieren habe, um die Illusion der Andersartigkeit genießen zu dürfen. Mein älterer Bruder war und ist Punk, diese Szene schien mir aber zu aggressiv, ich mochte damals noch nicht Rauchen und Trinken oder die Schule vernachlässigen, dazu suchte ich sie zu gerne auf, konnte ich doch dort Sebastian treffen und mich mit ihm über die lebensverändernden Erfahrungen austauschen, die aus Alben wie „Revolver“, „Sgt. Peppers Lonley Hearts Club Band“, aber auch „Magical Mystery Tour“ und „Beatles For Sale“ gewonnen werden konnten. Das Herrliche daran war, dass keine LehrerIn, keine Mutter oder kein Vater irgendetwas davon zu relativieren vermochte, sie kannten vielleicht das „Rote“, „Blaue“ und „Weiße“ Album, die Beatles „Oldies But Goldies“- oder „Lovesongs“-Compilation, aber Songs wie „Tomorrow Never Knows“, „I’m A Loser“, „I Don’t Want To Spoil The Party“, „She Said She Said“ und „Baby You’re A Rich Man“ mit den Zeilen „How Does It Feel To Be / One Of The Beautiful People“ nicht.
Ja, waren wir denn am Ende selbst „Beautiful People“? Vielleicht nicht, aber es erschien trotz der in dem Song enthaltenen Ironie erstrebenswert. Der Ausdruck wurde durch Lektüre erläutert und bildete gemeinsam mit Stücken wie „I’m Only Sleeping“ ein romantisches Bild des Dropouts, des verspielten, verpeilten Hedonismus, und es brauchte im Zusammenspiel mit solchen grundsympathischen Aufnahmen wie der verkichert-verkifften Version von „And Your Bird Can Sing“ auf der Anthology nicht viel, um zu zeigen, dass es viel mehr gab als das, was uns umgab, und dass es lohnenswert ist, sich um seine Entdeckung zu bemühen. Hätte ich nicht von den Drogenerfahrungen der Beatles gelesen, wäre es vielleicht nie zu dem von mir zeitweilig stark genossenen Konsum verschiedener Halluzinogene gekommen. „A Hard Day’s Night“ interpretierte ich in Richtung „soziales Elend im Kapitalismus“, eine Sichtweise, die mir von einer in der DDR erschienen Lennon-Biografie nahegelegt wurde und an der ich nicht zu zweifeln wagte.
Lennon war überhaupt unfehlbar. Seine Widersprüchlichkeit hinderte mich nicht an seiner Verehrung, er wurde mir zum Mentor und empfahl mir Pazifismus und Surrealismus durch sein Mitwirken im Film „How I Won The War“, die unter Umständen gewaltsame Revolution durch den gleichnamigen Beatles-Song, Spiritualität und Transzendenz („Across The Universe“) ebenso wie Aufbegehren und Materialismus (siehe die ironische Relativierung des Psychedelic durch „Glass Onion“).
All das konnte weder den MitschülerInnen noch Erwachsenen, die „Let It Be“ für den besten Beatles-Song hielten, bekannt und verständlich sein, von den Punks, Dunkelromantikern, jungen Christen und Jim Morrison vergötternden Hippies, mit denen ich mich bevorzugt umgab, ganz zu schweigen. Mein Umgang war deswegen so bunt, weil ich als Beatles-Fan nirgendwo wirklich dazu gehörte, aber von ihnen die Fähigkeit zur Offenheit erlernt hatte. Nicht wenig trug dazu die Überzeugung bei, all die genannten Gruppierungen, die Christen ausgenommen (wobei mir Lennon oft christlicher als Christus erschien), hätten ihre Wurzeln im Wirken und Wesen der Beatles, die ja auch allerhand mitgemacht hatten, aber immer unverkennbar sie selbst, die Beatles, blieben. Durch sie erfuhr ich, dass sich Begeisterung in den Wunsch nach Wissen äußern kann.
Popmusik wurde nebenbei durch die Beatles angeregt chronologisch aufgearbeitet, wer von ihnen verehrt wurde, war prinzipiell interessant, was durch sie geprägt wurde, ebenso.
Noch heute sind sie mir Heimat und Refugium in einer von Musik durchdrungenen Welt, die sie begründet haben, der Beweis für die Relevanz von Musik weit über ihren Unterhaltungswert hinaus. Ich bin ihnen und Sebastian zu stetem Dank verpflichtet.
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Wie immer toll geschrieben, Lennart! Wobei ich bei Halluzinogenen und Spiritualität „Strawberry Fields“ von Dir erwartet hätte;)
hehe… jetzt verfolgt mich dein lob schon bis hierher… besten dank, pascal! und strawberry fieldds ist leider nicht, öhem, spirituell genug… dann lieber „the inner light“ oder „within you without you“, aber wegen des textes, nicht der musik.
Für mich hat Strawberry sowas Entrücktes, Hochfliegendes. Ziemlicher Trip. Auch wenn ich Dir textlich gesehen jetzt nicht widersprechen möchte. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass ich inzwischen an der Magical Mystery Tour hängen geblieben bin…