Mit Albion haben sich ja schon mehrere Briten in der Vergangenheit beschäftigt. Peter Doherty blickte fast wehmütig zurück. Elvis Costello war eher der zornige Poet, der Gefühllosigkeit anprangerte. Das Rumtrampeln auf Unterlegenen. Auch PJ Harvey ist eine zornige Zeitgenössin. Ob für sie Albion das Weißland oder die Alpen sind, ist unwichtig. Sie will am Puls der Zeit sein, nicht in der Retrospektive leben, sondern in dem Land, das schon länger ein Kuddelmuddel darstellt.
Obwohl sie die Dardanellenschlacht noch einmal beleuchtet, mit all den Soldaten in Stacheldrahtzäunen. 500.000 Menschen starben, als es darum ging, im Ersten Weltkrieg Istanbul einzunehmen. Doch das ist nur ein Aspekt der neuen Platte. Denn all die verlorenen Schlachten werden auch heute noch einmal gefochten.
Polly Jean holt die alte Zither raus und schrammelt. Sie will das Land durchschütteln, mit Hymnen zuschütten und klagen. John Parish unterstützt sie weiterhin, hat sich aber vom Cover verabschiedet. PJ Harvey zieht die Mundwinkel runter, das hat sie immer schon gemacht, doch diesmal gibt es kaum Sonne, obwohl die Songs klarere Strukturen aufweisen, als noch auf ihren letzten Alben. Die Instrumentierung bleibt folkloristisch. Der Psychoblues ist der Flottenromantik und der Aufbruchstimmung gewichen. Die Bläser klingen wie Nebelhörner auf hoher See. Die Gitarren bleiben eisern in der Spur und halten sich an einfachen Akkorden fest. Den Rest macht Polly Jean mit Stimme und Drama. Das Kämpferische ist auf jeder Fahne mit dicken Blutstropfen verewigt. Die Soldaten kommen nicht mehr nach Hause. Harvey sitzt auf dem Hügel und singt das Klagelied, den Trauermarsch.
Parish brummt den Männerpart, wenn Polly Jean sich in ungeahnte Höhen hängt. Sie weint auf offener Szene. Ein Klavier perlt hinter der Schrammelakustik. Das England von Harvey hat verregnete Tage, die sich wie Wochen anfühlen. Der Tod fällt aus allen Wolken. Sehnsucht in Trümmern. Wenn sie „England“ singt, klingt das nicht mehr nach einem Land, nach Heimat, sondern nach Verlust. Oft sitzt sie mit einer Gitarre auf den vergifteten Straßen, sie hält die Hand auf, aber nicht um Geld zu verlangen, sondern um gerettet zu werden.
„Let England Shake“ ist ein altmodisch anmutendes Folkalbum, das viel Ausdauer verlangt, obwohl die Songs Platz lassen. Einige Lieder haben markante Melodien, die sogar haften bleiben wie ein Popsong. Die Produktion ist verdreckt, mit schwarzen Fingern zupft Polly Jean die Zither. Doch zwischendurch sitzt sie auch nah am Wasser und kann sich säubern. Der Nebel macht alles dick. Das Öl läuft zuerst in die Bassdrum und dann in Harveys Stiefel. Das Schlagzeug poltert in Bluesmanier als treuer Weggefährte in der Eselsecke. PJ Harvey bleibt eine Ausnahmekünstlerin, die viel fordert, die sich düster über den Zustand ihres Landes auslässt. Auf dem Friedhof der Vergangenheit legt sie genauso Blumen ab, wie in der Innenstadt vor die Modeketten. PJ Harvey hebt die Faust, diesmal ohne roten Nagellack. Der Kampf geht weiter. Tolle Platte.
Let England Shake ist bei Island erschienen.