Peaches Christ Superstar Live – Hamburg, Kampnagel 4.5.2010

Der Vorhang geht auf und Peaches steht im Scheinwerferlicht. Unschuldig nur in einen weißen Body mit Dune-der-Wüstenplanet-Kragen und einer weißen Leggins gehüllt, schaut sie in das ausverkaufte Rund. Chilly Gonzales, der Virtuose am Flügel und jahrelange Begleiter und Freund Peaches, setzt an. Es ist mucksmäuschenstill. Das Theater wird zur Kirche, zum Dorfplatz, zum Berg und zum voyeuristischsten Platz Hamburgs. Das Musical, das keines ist, kann beginnen. Nur die Ballett-Schläppchen und die grünen Pantoffeln von Chilly sind ein Hingucker. Sonst lenkt nichts ab. Bühnenbild oder gar ein gefüllter Orchestergraben sind nicht auszumachen. Auch der Theatermuffel merkt schnell. „Das wird hier heute anders.“ Die Bühne ist der Boden. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Die Wahl-Berlinerin Peaches hat sich ihren Traum, der sie schon seit Kindertagen nicht in Ruhe lässt, erfüllt und verkörpert nun das Musical „Jesus Christ Superstar“. Verkörpert ist auch die richtige Beschreibung. Es geht gar nicht um die gesangliche Darbietung. Dass Peaches singen kann, wussten wir auch vorher. Dass sie mehrere Gesichter hat und gerne mal in Rollen schlüpft, die anecken oder provozieren, auch. Doch eine Rock-Oper, ein Musical zu adaptieren, alle Rollen zu singen und nur ein Klavier als Unterstützung im Rücken zu haben, das ist schon eine Überraschung und Ansage.
Die Songs von Andrew Lloyd Webber sind natürlich groß angelegt und schleimen sich an die Bibel ran und so auch an die musikalischen Untiefen des typischen Musicalpublikums, doch Peaches nimmt mit ihrer Inszenierung den Stücken all den Broadway-Mief und die Hook/Refrain-Bringschuld und stülpt ihnen Zynismus und Zeitlosigkeit über. Das hatte Webber wohl auch im Sinn, doch er verlor sich im Kitsch. Ein Gefangener der Liebe.
Peaches
Gonzales ersetzt das Orchester und die Rockband gleichermaßen und zeigt mal wieder, wie genial er die Tasten im Griff hat. Wahnsinn! Peaches säuselt und schreit sich durch das Programm, das nur mit dem Farbenspiel der Bühnenbeleuchtung spielt. Sonst dreht es sich um sich selbst. Dies ist auch die einzige Frage, die am Ende offen bleibt. Warum das alles? War es nur ein Versuch mal aus der Electro-Punk-Klitsche auszubrechen, um dem Publikum zu zeigen: „Ja, ich kann mehr als im Höschen durch die Clubs tigern!“?
Das Peniskreuz, das am Ende in den Theaterhimmel gezogen wird und mit Peaches über der tanzenden Berlin-Posse schwebt, ist auch schwer einzuordnen. Ist das der Ausbruch aus der spießigen Welt der Symbolik? Schlagt ihre Waffen mit den Waffen der Provokation? Auch die Peitschenhiebe und die gewaschenen Hände in Unschuld sind nur am Rande interessant. Das Musical als Musical ist wohl der Orientierungspunkt. Überlasst nicht den Heimchen und den Trotteln das große Bühnenbrimborium. Nehmt euch die Spielhäuser und Bühnen und zeigt der Welt eure Versionen der Realität oder des Glücks. Mit all den Facetten der aktuellen Begebenheiten. Tauscht die Rollen, zeigt den Spießern, was Liebe und Sex miteinander verbindet. Oder eben auch nicht. Begeht Sünden, um zu neuen Ufern zu gelangen. Schlagt Mary Poppins mit dem Schirm und nehmt Tarzan den Lendenschurz. Singt: „Ich war schon zehnmal in New York!“
Peaches bleibt sehr nah am Werk und hat ihr eigenes Potenzial unterschätzt. Auch ihre stimmliche Qualität hätte durch ein größerers Arrangement vielleicht noch mehr an Ausdrucksstärke gewonnen. Obwohl, das kann man ihr nicht vorwefen. Das gehörte wohl zur Bedingung.
Das Publikum steht und lässt die Künstlerin nicht mehr von der Bühne. Peaches unterstreicht mit diesem Projekt, das sie für eine Neudefinierung ihrer Kunstfigur bereit ist. Sie opfert sich für’s Publikum, wird erneut zum Spiegel und haucht dem Mutti-Genre“Musical“ neues Leben ein. Ob es sich da um „Jesus Christ Superstar“ handelt oder nicht, ist eigentlich unwichtig. Auf dem Nachhauseweg summe ich einige der Melodien. Musical bleibt Musical…

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