The Magnetic Fields – Realism

Die Realität ist oft hart. Manchmal wünscht man sich, dass sie uns ein wenig anlügt, doch dann würde sie ihr faltiges Gesicht verlieren. Kummer und Sorgen gehören einfach zu ihr, wie der Apfel zu Blaukraut. Stephin Merritt, der Troubadour, hat wieder nach New York geladen. Dort ist die Realität an jeder Straßenecke greifbar. Jede Bar hat Steve-Buscemi-Visagen zu bieten. Downtown wird zu einer Gefühlsregung.
Nach der verzerrten Welt auf „Distortion“ kehrt Stephin mit seinen Magnetic Fields der Krachelegie den Rücken. Schönklang steht wieder im Vordergrund. „Distortion“ hatte dieses Kellerloch-Feeling und dieses Wollpulli-Juckproblem. Das Album kratzte an wunden Stellen und schepperte durch neblige The Jesus and Mary Chain-Phantomschmerzen. „Realism“, die hübsche Zwillingsschwester, flötet wieder wie ein Vögelchen im Central Park an einem Montagmorgen. Flieg‘ nicht so hoch mein kleiner Freund! Der Absturz ist dir gewiss und die Sonne bräunt dir die Flügel. Vorsicht Verbrennungsgefahr! Doch das Kribbeln im Bauch ist jeden Verlust und physischen Schmerz wert.
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Die Jungfrauen und Loverboys lassen ihre Herzen kreisen. Wer darf mit dem Herzblatt-Hubschrauber über unseren Köpfen kreisen? Die Liebe ist das einzige akzeptable Ziel. Der Großstadtdschungel wird zur Spielwiese. Allerhand Instrumente hat Stephin angeschleppt. Die Steckdosen werden zugeklebt. Tubas versperren den Weg in die Tee-Küche. Klettern muss man über Banjos und Ukulelen. Kannst du mal kurz das Glockenspiel halten oder auf das Sideboard klopfen, denn ein Drumkit wollen wir nicht?
Seine Mitstreiter singen aus vollen Kehlen und unterstützen den Meister in seinen Folk-Pop-Kleinoden. Die Stimmung spiegelt den Morgen des Heilgen Abends wieder. Der Baum wird gemeinsam festlich geschmückt. In der Küche riecht es nach Keksen und Sternanis. Merritt, der Gourmet, schmeckt die braune Soße ab. Der Braten ist ein Gedicht. Der Bratschlauch trötet ein Liedchen. Das Leben ist halt machmal wie ein Weihnachtsbaum. Für einige Zeit der Mittelpunkt der Wohnung, doch nach einigen Tagen wird er über den Balkon geschmissen. Pech gehabt!
Genieß die Tage, die du hast und verschöner sie mit hemmungslosem Sex. Lenk‘ dich von der Realität ab und kauf‘ dir Musical-Karten und lass dich verzaubern. Egal, ob das kitschig ist oder nicht. Die akustischen Instrumente klingen nach einer warmen Stube und Merritt brummt selbstvergessen seine Stücke. Das Glöckchen bimmelt und der nächste Gang wird serviert. Celli und Violine werden behutsam unter dem Baum versteckt. Auf dem Trödel wurden einige Judy Collins-Vinylschätzchen gekauft, die nun gewichtelt werden.
Die altmodische Folktradition wird untersucht. Bis auf die Knochen. Das Skalpell gleitet durch deine runzelige Haut. Die Realität lässt sich ungemein schwer mit der E-Gitarre widerspiegeln. Die Bannmeile wird nicht durchbrochen. Merritts Romantik sprudelt durch Tränenmeere. Unter Wasser wird laut gebrüllt, so dass jeder Hammer-Hai die Flossen streicht. Mit nassem Haar geht es in den Schnee hinaus. Eiszapfen zieren deine Veranda. Jede Zurückweisung eines Lovers wird mit Holzinstrumenten zu einem Racheakt. Ein letztes Betteln unter dem Schlafzimmerfenster lässt dich vielleicht doch noch einmal ins Gemach des Liebsten.

Shirley Simms bringt mit ihrer Stimme eine helle Farbe ins dunkle Trauerkabinett. Engagiert betüddelt sie die Magnetic Fields-Mannschaft mit Kokosmakronen. Zauberhaft. Merritt hat endlich sein Folk-Album gemacht und übertrifft sich mal wieder selbst. Schön altbacken und skurril. Das Gesamtkonzept geht auf. „Realism“ ist ein wunderbares Album, auf dem es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt. Mit jedem Hören steigern sich die Songs um zwei Treppenhäuser. Das Haus ragt nach dem zehnten Hören in die Wolken.
Das betörende „I Don’t Know What To Say“ klimpert und schalmeit sich in unsere Herzkammern und lassen dich erschlagen, sowie verliebt zurück. Schon früh ist ein Album für die Jahrescharts gebucht. Stephin, ich küsse dich.
Erschienen bei Nonesuch

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