Die Brüder Dardenne quälen uns nach „L’Enfant“ erneut mit einer Fiktion aus der Realität. Ihr knallharter, unsentimentaler Blick liebäugelt niemals mit amerikanischer Gefühlsduselei. Ihr Europa gibt uns Zweifel auf. Das gezeigte Leben am Rande der Gesellschaft offenbart uns, dass zwar Grenzen geöffnet, doch Menschlichkeit oft unüberwindbare Schranken kennt.
Lorna, wunderbar beklemmend dargestellt von Arta Dobroshi, eine junge Albanerin heiratet Claudy, einen belgischen Junkie, um die Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Diese benötigt sie, um einen Russen zu ehelichen. Die Menschenhandelmafia verspricht Geld. Mit diesem Geld möchte Lorna mit ihrem eigentlichen Freund eine Snackbar eröffnen. Der Junkie muss also geopfert werden.
Pech für Lorna, dass Claudy einen Entzug macht und sie ihn mit der Zeit zu schätzen beginnt. Sie schläft sogar einmal mit ihm. Fast aus Mitleid!
Der Russe kann nicht länger warten. Um das Geschäft nicht platzen zu lassen tötet die Mafia Claudy. Lorna glaubt schwanger zu sein. Als Vater kommt für sie nur Claudy in Frage. Natürlich möchte der Russe keine schwangere Frau ehelichen. Die Mafia muss reagieren…
Die Figuren sind so greifbar und schockierend echt, dass man zwischenzeitlich glaubt eine Dokumentation zu sehen. Jede dieser Figuren hat einen anderen Plan vom Glück. Alle kämpfen für ihren Platz in der Welt mit ihren eigenen Waffen. Um ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen fehlt es an Geld. Die Suche nach dem nötigen Geld und die Zirkulation dessen ist ein Hauptthema der beiden Belgier. Migrantenproblematik, Drogensucht und Lebensunglück scheinen nur mit ausreichend Geld zu behandeln sein. Alle Mittel sind recht und jeder ist sich der Nächste.
Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne schaffen zeitgenössisches Kino obwohl sie in dieser Sparte fremd wirken. Action ist hier nur eine Regieanweisung. „Lornas Schweigen“ lässt uns der tristen Wirklichkeit ins Auge schauen. Hut ab vor so viel Gespür und Mut.
Erschienen bei Good!movies